Unerkannte Begabungen, Risikogruppen

Unerkannte Begabungen - Risikogruppen der Begabtenförderung

1.    Fremdsprachige
Zahlreich sind die Beispiele fremdsprachiger Schülerinnen und Schüler, die aufgrund mangelhafter sprachlicher Ausdrucksfähigkeit in ihren kognitiven Begabungen unterschätzt werden. Breit kann denn auch nachgewiesen werden, dass Schülerinnen und Schüler aufgrund ihrer Fremdsprachigkeit von Lehrpersonen vorschnell falsch eingeschätzt werden. Diese Vorurteile beeinflussen die Erwartungshaltung an die Lernenden und oft auch die Bewertung deren Leistungen. Die sprachliche Gewandtheit und ein der jeweiligen Schulkultur entsprechender Soziolekt kann als ein wesentlicher Schlüssel für schulischen Erfolg angesehen werden, weil Sprachverhalten oft irrtümlich als Indikator für kognitive Fähigkeiten gewertet wird (Ditton 2007; Stanat, Rauch & Segeritz 2010).

2.    Bildungsferne als Bildungsbenachteiligte
Nach wie vor zeigt die Forschung auch in belastender Weise auf, dass Schülerinnen und Schüler aus niedrigen sozialen Bildungsmilieus überdurchschnittlich oft in die unteren Leistungsniveaus der Sekundarschule eingewiesen werden. Niedrige Erwartungshaltung des Elternhauses, oft niedriges schulisches Selbstkonzept, aber auch Effekte der Leistungsbewertung durch Lehrpersonen bewirken offenbar einen sogenannten Mittelschicht-Bias (Hartmann 1990), der dazu führt, dass sozial Benachteiligte durch unser Bildungssystem und tradierte Lernpraktiken prädestiniert sind, zu Bildungs-Verlierern zu werden (Bourdieu 1986; Bourdieu & Passeron 1990; Baumert et al 2001). Dieses breit untersuchte soziale Phänomen untermauert die begründete und ernstzunehmende Kritik am teilweise nicht eingelösten Versprechen der Bildungsgerechtigkeit der bestehenden Schulpraxis.

3.    Verleugnung – Furcht vor Vorurteilen
Kinder und Jugendliche mit überdurchschnittlichen Fähigkeiten realisieren schon früh, dass sie teilweise anderes denken als ihre Mitschülerinnen und -schülern. Sie stellen andere Fragen, möchten mehr wissen oder sind hoch motiviert. Dies fällt nicht nur Ihnen auf, sondern auch den Mitschüler/innen und den Lehrpersonen, die darauf unterschiedlich reagieren können. So lösen hohe Begabung und Interesse in der Umgebung bei manchen Menschen Neid oder Angst vor Unterlegenheit aus, während andere diese positiv überhöhen. Von vielen Begabten wird diese Situation als bedrohlich erlebt. Sie möchten gerne ganz normale Sozialkontakte zu ihren Gleichaltrigen pflegen. Aufgrund ihrer Lernfreude und Leistungsbereitschaft riskieren sie aber, als Streber oder als «anders als die anderen» auffällig und ausgegrenzt zu werden (Coleman & Cross 2000). Selbst, wenn kein äusserer Druck besteht, können sie subjektiv ihr Anderssein wahrnehmen und aus Furcht vor Ausgrenzung maladaptive Bewältigungsstrategien der Anpassung an die Gruppe oder Verleugnung der eigenen Fähigkeiten und Interessen entwickeln. Insbesondere Mädchen verstecken ihre Begabungen oft schon sehr früh und scheinen insbesondere im Jugendalter im Dilemma zwischen Hochleistung und Dazugehörigkeit ihre Potenziale und Interessen nicht offen zu zeigen (Reis 2002; Neihart 2006). «Be smart but not too smart», «compete, but be nice» sind Ausdruck dessen, wie überdurchschnittlich begabte Jugendliche die widersprüchlichen Erwartungen ihres sozialen Umfelds beschreiben.

4.    Dysfunktionaler Perfektionismus
Perfektionismus ist zu unterscheiden in eine gesunde Form des adaptiven Perfektionismus und eine dysfunktionale Form, die Personen, die unter «ungesundem Perfektionsmus» leiden, blockiert. Beiden Formen liegen aussergewöhnlich hohe Leistungsansprüche an sich selbst zugrunde. Beim adaptivem Perfektionismus stellt das Erleben von Freude beim Streben nach exzellenter Leistung und hohen Zielen eine positive Ressource dar. Demgegenüber stellen Personen mit dysfunktionalem Perfektionismus übersteigerte Erwartungen an sich (und an andere), die kaum oder nicht erfüllbar und erdrückend sein können. Sie leiden dann unter einem extrem hohen Leistungsdruck, dem sie sich schliesslich nicht gewachsen fühlen. Weil sie ihr Selbstverständnis an das Erreichen sehr hoher Leistungsziele koppeln, kann sich eine pathologische Angst vor Fehlern, Misserfolg entwickeln. Diese kann sich in Blockaden, im Aufschieben oder Vermeiden von Aufgaben, in mangelnder Erfolgszuversicht und in hohen Versagensängsten äussern und zu einem schwerwiegenden Einbruch des Selbstwerts führen, der die Person letztlich handlungsunfähig macht (Silverman 1999; Schuler 2002; Rimm 2008).

5.    Minderleistung – Underachievement
Immer wieder finden sich auch Schülerinnen und Schüler mit (teils sehr) hoher Intelligenz in niedrigen Leistungsniveaus der Sekundarschule. Sie erzielen nur mässige oder schlechte Leistungen, wiederholen Klassen oder scheitern ganz an der Schule. Solche Jugendliche, deren Leistung hinter dem zurückbleibt, was sie von ihren Fähigkeiten her zu leisten imstande wären, werden als Minderleister bezeichnet. Gründe für die Diskrepanz zwischen Potenzial und Leistung können einerseits persönliche Einstellungen der Jugendlichen selbst sein (Leistungsängste, Misserfolgsorientierung, geringes Selbstvertrauen, soziale oder emotionale Schwierigkeiten, fehlende Lernstrategien). Sie können aber auch im geringen kulturellen Kapital oder in niedrigen Bildungsansprüchen des Erziehungsmilieus liegen. Andererseits kann Underachievement auch als Folge von Fehlentwicklungen in Lernprozessen, als Folge unzureichender Beachtung der Person und deren Leistungen oder aufgrund geringer Unterstützung in Lernprozessen entstehen (Gorard & Smith 2004; Uhlig et al. 2009, Greiten 2013). Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Entstehung von Minderleistung sind durch ihre Abhängigkeit vom sozialen Umfeld die Beziehungen in der Lerngruppe und zu Lehrpersonen, aber auch die Auswirkungen von zu hohen resp. zu niedrigen Erwartungen und Unterrichtsangebote (VanTassel-Baska & Brown 2007). Wieczerkowski & Prado (1993) formulierten dazu das Modell der «Spirale der Enttäuschungen».

Eine offene und weite Definition, die sich am Kriterium nicht umgesetzter Potenziale orientiert, geht von der Hälfte aller (Hoch-)Begabten aus, die als Minderleister bezeichnet werden können (Rimm 2008; Ziegler & Stoeger 2004). An Regressionsmodellen angelehnte Definitionen sprechen von 11 bis 20 % der Schülerinnen und Schüler, die ihre Fähigkeiten nicht in Leistung umsetzten können (Rost 2007; Gyseler 2009). Neben der Definition eines allgemeinen Underachievements ist zu festzustellen, dass Minderleistung auch fachspezifisch auftreten kann, da Begabungen und Leistungen einer Person auch in einzelnen Domänen ausgeprägt sein können (Preckel & Vock 2013, 83; Müller-Oppliger 2011). Insgesamt tritt Minderleistung bei Jungen etwa doppelt so häufig auf wie bei Mädchen (Reis & McCoach 2000). In diesem Zusammenhang soll nicht unerwähnt bleiben, dass eine breite Literatur zum Zusammenhang von unerkannter Minderleistung und Verhaltensauffälligkeiten in der Schule existiert.

6.    Übererregbarkeit – Overexcitability
Einige (Hoch-)Begabte weisen, als Folge einer überhöhten Erregbarkeit des Zentralnervensystems eine sehr hohe Sensibilität auf, die sie vieles anders erleben lässt als ihre Altersgenossen. Dabrowski (1964) charakterisiert diese Übererregbarkeit in fünf Erscheinungsformen:

psychomotorisch         Überschuss an Energie, hoher Aktivitätslevel, Impulsivität, Ruh- und Rastlosigkeit; Redefluss in hohem Tempo, (oft fehldiagnostiziert als ADHS)

sensorisch                    erhöhte Sensibilität im Erleben von Berührungen, Sehen und Hören, Geruch und Geschmack, oft Beeinträchtigung durch überstarke Wahrnehmung von Sinnesreizen oder Unstimmigkeiten (bis körperliche Abstossreaktionen)

intellektuell                 intensiver Drang nach Verstehen und Erkenntnissen, exzessives und unnachgiebiges Fragenstellen, neugierig, oft exzessive Leser, Vorliebe zum «Denken übers Denken» (bis zum Verlieren in Gedanken, das dazu führen kann, dass „der Wald vor lauter Bäumen nicht mehr gesehen wird“), frühe Auseinandersetzung mit Problemen der Erwachsenen und der Welt, oft kritisch im Denken und ungeduldig mit anderen.

imaginal                     überdurchschnittliches Vorstellungsvermögen, hohes konstruktiv-kreatives Potenzial, originelle und lebhafte Jugendliche, teilweises Ausklinken in regelgeleitetem, normativem Unterricht und Kreieren eigener Aufgaben oder einer Scheinrealität (Tagträumen), um dem „Wie man es macht“ oder „Wie es eben ist“ und/oder Langeweile zu entkommen.

emotional                   intensives emotionalen Erlebens, hohes Einfühlvermögen/Mitgefühl, starkes Gerechtigkeitsempfinden verbunden mit „Weltschmerz“ zu Problemen der Menschheit und Umgebung, starke Selbstkontrolle, affektive (Über-)Reaktionen gegenüber ihrer Umwelt. Somatische Marker: Bauchschmerzen, Kopfweh/Migräne bis Depression (Dabrowski 1964; Dabrowski & Piechowski 1977, Webb 2004).

Begabung kann nicht generell mit erhöhter Sensibilität gleichgesetzt werden. Dennoch sind Zusammenhänge zwischen der Differenziertheit in der Wahrnehmung, im Denken und Fühlen sowie in der Tiefe des emotionalen Erlebens mit spezifischen Hochleistungsausprägungen plausibel. Zahlreich sind die Beispiele hochbegabter Menschen, die Merkmale der Hochsensibilität aufweisen und teilweise ernsthaft darunter leiden. Immer wieder finden sich bei Schülerinnen und Schülern mit häufigen Kopf- oder Bauchschmerzen oder überraschenden affektiven Reaktionsweisen unerkannte dahinterliegende Hochleistungspotenziale mit überhöhten Selbst- und Fremdansprüchen.

7.    Begabung und Behinderung - Twice Exceptional
Eine weitere Gruppe von Jugendlichen, deren (Hoch-)Begabungen oft nicht wahrgenommen werden, stellen sogenannte «Twice Exceptionals» dar. Darunter verstehen wir Schülerinnen und Schüler mit überdurchschnittlichem Leistungspotenzial bei gleichzeitiger Teilleistungsschwäche, die verhindert, dass die Begabungen erkannt, gefördert oder in entsprechende Leistung umgesetzt werden können. Das sind Jugendliche mit beispielsweise ADHS, Lese-Rechtschreibschwächen, Verhaltensdefiziten oder körperlichen Beeinträchtigungen mit überdurchschnittlichen Begabungspotenzialen oder Fähigkeiten. Diese zu erkennen ist oft nicht einfach; es erfordert eine ausgesprochen differenzierte Wahrnehmung der Schülerinnen und Schüler, ihres Verhaltens und ihrer Leistungspotenziale durch die Lehrperson in Zusammenarbeit mit spezifisch ausgebildeten Fachpersonen der Begabungsförderung oder Schulpsychologen (Reis & Renzulli 2004; Kalbfleisch & Iguthi 2008, 707).

Literaturnachweis:
Auszug aus:
Müller-Oppliger, Victor (2017). Horizonte und Perspektiven der Begabungsförderung. In: Begabungsförderung steigt auf. Begabungsförderung auf der Sekundarstufe I. Hrsg.: Stiftung für hochbegabte Kinder & Mercator Schweiz. Bern: hep-verlag ag.